- Kriminalliteratur: Rätsel, Analyse, Action
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Anders als Verbrechensliteratur, die nach dem Ursprung, dem Sinn und der Wirkung des Verbrechens fragt und Kunstwerke wie den »König Ödipus« des Sophokles und Dostojewskijs »Schuld und Sühne« hervorgebracht hat, beschäftigt sich die vornehmlich auf spannende Unterhaltung zielende Kriminalliteratur im Wesentlichen mit den Anstrengungen, die zur Aufdeckung eines Verbrechens und zur Überführung und Bestrafung des Täters notwendig sind. Die Art und Weise der geschilderten Anstrengungen führt zu der allgemein üblichen Unterscheidung zwischen Detektivromanen und Thrillern, wobei die inhaltlichen wie formalen Merkmale, die diesen beiden Ausprägungen des Kriminalromans zugeschrieben werden, sich insbesondere in der neueren Kriminalliteratur oft überschneiden. In (idealtypischen) Detektivromanen bemühen sich Ermittler und ihre Helfer, durch den Einsatz vorwiegend intellektueller Fähigkeiten Licht in das Dunkel eines bereits schon begangenen oder auf den ersten Seiten verrätselt geschilderten Verbrechens zu bringen. Dabei wird einerseits das Geheimnis, welches das Verbrechen umgibt, planmäßig verstärkt, etwa durch Verdächtigungen, die in die Irre führen, andererseits das Unerklärte, Verwirrende durch die zwingende Gedankenarbeit eines besonders hervorgehobenen Detektivs systematisch abgebaut. Aus dieser Konkurrenz von Verdunkelung und Erhellung (»Aufklärung«) erwächst für den Leser die Spannung. Seine Aufmerksamkeit ist rückwärts gerichtet, er nimmt teil an der Rekonstruktion eines Tathergangs und findet seine Entspannung schließlich bei der endgültigen Lösung des Rätsels.In (idealtypischen) Thrillern dagegen, zu denen auch die Spionageromane gehören, gelten die Anstrengungen der Ermittler nicht der schwierigen und zeitraubenden Entschlüsselung einer unaufgeklärten Tat, sondern der Verfolgung eines schon bald identifizierten oder von vornherein bekannten Verbrechers. Dabei werden aktionsgeladene Szenen, oft Szenen des Kampfes, aneinander gereiht. In ihnen setzt sich der - meist ebenfalls von Helfern umgebene - Vertreter des Gesetzes mit Widerständen auseinander: mit äußeren Hindernissen, die überwunden, oder Personen, die beseitigt werden müssen. Die Spannung des Lesers ist damit in die Zukunft gerichtet; sie löst sich beim inneren Mitvollziehen der Ergreifung beziehungsweise der gewaltsamen Überwältigung des Verfolgten.Im Detektivroman wirkt der Mord als Rätsel. Nicht als Verbrechen ist er von Bedeutung, sondern als Anlass für die Tätigkeit der Detektion. Nicht die sich in ihm ausdrückende Inhumanität wird Thema, sondern das Außergewöhnliche seiner Begleitumstände. Je unlösbarer das Rätsel erscheinen soll, desto unwahrscheinlicher muss das Verbrechen sein. Gemordet wird etwa mit einem Dolch aus Eis, der nach der Tat auftaut, oder mit vergifteten Zahnfüllungen - der Erfindungsreichtum ist groß. Auch die Situation, in der gemordet wird, ist hochgradig konstruiert. Bevorzugte Mordplätze sind isolierte Räume: Inseln, fahrende Züge, Flugzeuge. Sie sind notwendig, um den Kreis der Verdächtigen klein und konstant zu halten. Denn die Bemühungen des Detektivs (und des mit ihm wetteifernden Lesers) können nur zum Erfolg führen, wenn die Voraussetzungen für logische Kombinationen sich nicht verändern - und dies kann erzählerisch nur durch die Abriegelung der Figuren von der Umwelt glaubhaft gemacht werden. Der Täter bleibt unter mehreren Verdächtigen unerkannt und wird erst am Schluss entlarvt.Im Gegensatz zum Detektivroman ist das Verbrechen im Thriller nicht festgeschrieben. Verrat, Überfall, Spionage, Massenmord gewährleisten den Abwechslungsreichtum dieses Genres. Der Leser erlebt unmittelbar die Ausführung des Verbrechens oder nimmt an seiner Vorbereitung teil. Besonders wenn es eine Reihe bereits begangener Verbrechen fortsetzt, wird es zur Bedrohung und löst die emotionale Beteiligung des Lesers aus. Dem isolierten Raum des Detektivromans steht im Thriller die Vielfalt meist der Großstadt zugehöriger Schauplätze gegenüber, die entsprechend der aktionistisch bewegten Handlung ständig wechseln und immer wieder auch für sensationelle Effekte genutzt werden. Obwohl der Thriller auf diese Weise die Realität umfassender einzufangen in der Lage ist, bleibt sein Bild der Wirklichkeit - gerade in den erfolgreichsten Beispielen seiner Geschichte wie den James-Bond-Romanen Ian Flemings - stark dem Klischee verhaftet. So unterschiedlich die Helden in Detektivroman und Thriller auch sein mögen - während die einen sich als Darsteller der »Ratio« präsentieren, zeichnen die anderen sich durch körperliche Vorzüge, Mut und pragmatisches Lösen der Probleme aus - sie treffen sich in ihrer Funktion, den durch das Verbrechen hervorgerufenen Ausnahmezustand zu beseitigen und das Vertrauen des Lesers auf den Zugriff des Rechts zu stärken. Dabei handeln die meisten Helden beider Genres ganz autonom und zugleich autoritär und lassen den sie bewundernden Leser an der Effektivität ihrer Denkprozesse, die der Bestrafung Schuldiger dienen oder an Menschenjagden teilnehmen.Die Geschichte der Kriminalliteratur kann hier nur gestreift werden. Betrachtet man zunächst den Detektivroman, gilt Edgar Allan Poes Erzählung »Der Doppelmord in der Rue Morgue« (1841) nicht zuletzt deswegen als Maßstab, weil sein Detektiv Dupin als Inbegriff des »Scharfsinnshelden« geradezu mit Glaubenseifer die Macht des Intellekts proklamiert. Seinen bekanntesten Nachfolger fand Poe in Conan Doyle, dessen in zahlreichen Detektiverzählungen und -romanen wie »Der Hund von Baskerville« (1902) auftretender Sherlock Holmes im Gegensatz zu Dupin nicht die Kunst der Deduktion vorführt, sondern sich eher als Empiriker zeigt, der seine Schlussfolgerungen erst nach längerer Beobachtung und Auswertung der Fakten zieht. Dass Doyle das Sammeln von Indizien und die Denkarbeit seines Detektivs mit abenteuerlichen Handlungen verknüpfte, die auch die Sensationslust der Leser ansprachen, dürfte einer der Gründe für seinen überwältigenden Erfolg gewesen sein. Da Poe und Doyle ihre Detektive auf die von ihnen bearbeiteten Kriminalfälle moralisch indifferent reagieren ließen, bereiteten sie den Autoren reiner »Rätselromane« wie Gaston Leroux oder Agatha Christie den Weg. Die Reaktion auf derartige Romane ließ nicht lange auf sich warten. Dorothy Sayers, Georges Simenon und Friedrich Glauser sind die herausragenden europäischen Autoren, die den Detektivroman unter Beibehaltung seiner Erzählstruktur auf unterschiedliche Weise zum realistischen Roman umzugestalten suchten. Auch die amerikanische »Hard-boiled school«, die brutale Kriminalromane in einer eher vulgären Sprache verfasste, polemisierte gegen die Sterilität der pointierten Rätselgeschichten. Dashiell Hammett (»Der Malteser Falke«, 1930) und Raymond Chandler (»Der tiefe Schlaf«, 1939), deren Romane man mit guten Gründen auch dem Thriller zuordnen könnte, zeigten, dass dem Verbrechen keine »heile Welt« gegenübersteht. Ihren besonderen Unterhaltungswert gewann ihre Gesellschaftskritik dadurch, dass sie den Helden als »Tough guy« herausstellten, der in einer korrumpierten Welt einen unerschrockenen moralischen Kampf führt. Obwohl beide Autoren an der Ermittlungsaufgabe des Detektivs festhielten, wurden die analytischen Anteile seiner Arbeit von den aktionistischen doch weitgehend überlagert. Gerade von Hammett und Chandler sind für die Weiterentwicklung des Detektivromans in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mannigfache Impulse ausgegangen - auch für den neuen deutschen Kriminalroman, der sich in den Siebziger- und Achtzigerjahren darum bemühte, die für die Gattung typischen Unterhaltungseffekte für sozialkritische und aufklärerische Anliegen zu nutzen, und dessen beste Autoren - Richard Hey, Michael Molsner, -ky, Pieke Biermann - den internationalen Vergleich, etwa mit den Schweden Maj Sjöwall und Per Wahlöö, nicht zu scheuen brauchen. Erwähnenswert sind auch die frühen Detektivromane Friedrich Dürrenmatts, der die Möglichkeiten der Rechtsverwirklichung hinterfragte und die Problematik des Detektivromans überhaupt ins Licht zu rücken suchte.Der Thriller, dessen weit in die Geschichte des Abenteuerromans zurückreichenden literarischen Vorbilder vielfältig sind, trat seinen Siegeszug an, als seit circa 1860 in den USA die »Dime-novels« auf den Markt kamen. Solche Romanheftserien, die in Europa erst um 1900 populär wurden, besaßen für die breite Leserschaft unter anderem den Vorteil, dass - im Gegensatz zu den in endlosen Fortsetzungen gelieferten Kolportageromanen - die Handlung der einzelnen Hefte übersichtlich und abgeschlossen war. Besonders erfolgreich war die seit 1886 in den USA publizierte »Nick Carter«-Serie. Die Zahl der in der Folgezeit verbreiteten Krimi-Serien, an denen meist verschiedene Autoren arbeiteten, ist kaum überschaubar. Auffällig ist der allmähliche Wandel der Helden von vielseitig begabten Abenteurern zu reinen Funktionsträgern, die den staatlichen Auftrag erfüllen, für Ruhe und Ordnung zu sorgen und Gefahren für die Allgemeinheit abzuwehren. Die Sehnsucht der Leser nach Identifikationsfiguren mit Intelligenz und Durchsetzungsvermögen weicht immer mehr dem Wunsch, sich beschützt zu fühlen und in Sicherheit leben zu können.Die Geschichte des Spionageromans begann 1903 mit Erskine Childers Roman »Das Rätsel der Sandbank«, der das englische Publikum auf Deutschlands erstarkende Seemacht aufmerksam machen wollte. Als früher Klassiker des Genres gilt John Buchans »Die 39 Stufen« (1915), in dem die englische Regierung von einem Patrioten vor einer Verschwörung deutscher Spione gewarnt wird. Politische Interessen, patriotische Gesinnungen, zunehmend auch Dämonisierungen des Feindes wurden in den folgenden Jahrzehnten zu feststehenden Merkmalen gerade des massenhaft verbreiteten Spionagethrillers und fanden insbesondere bei Herman Cyril McNeile, der unter dem Pseudonym »Sapper« publizierte, Ian Fleming und Jean Bruce Zuspitzungen, bei denen Antikommunismus, Antiintellektualismus, zum Teil auch Antisemitismus breitenwirksame Verbindungen eingingen. Die beiden Weltkriege und den Ost-West-Konflikt nutzten auch ambitionierte, sich um einen »realistischen« Spionageroman bemühende Autoren wie Somerset Maugham, Graham Greene, Eric Ambler, Len Deighton. John le Carrés Romane (»Der Spion, der aus der Kälte kam«, 1963) bilden im Urteil der meisten Kritiker den Höhepunkt des Genres und leiten zugleich dessen Überwindung ein, weil sie den zweifelnden Helden und die Sinnlosigkeit der Agententätigkeit überhaupt herausstellen und auf Feinddiffamierungen verzichten.Sucht man die große Popularität des Kriminalromans zu erklären - in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts erfreuen sich Kriminalromane, etwa von Elisabeth George, Sara Paretsky, Donna Leon und Ingrid Noll besonderer Beliebtheit - stößt man auf einen für seine unterhaltende Wirkung ausschlaggebenden Mechanismus: Sowohl bei den Lesern vorwiegend analytischer als auch bei den Lesern vorwiegend aktionistischer Kriminalromane werden zunächst Irritationen beziehungsweise Befürchtungen ausgelöst. Im Detektivroman kann die Atmosphäre des allseitigen Verdachts, der Zusammenbruch des Vertrauens den Leser deswegen berühren, weil hier ein Teil seiner eigenen Lebenswirklichkeit - die vielfältige Tarnung des Geheimnisse mit sich tragenden Menschen - gespiegelt wird. Der Thriller evoziert stärkere Gefühle; er spricht (meist schon vorhandene) Ängste an - durch die Darstellung existentieller Gefahren für die Identifikationsfigur, durch den Ereignischarakter der geschilderten, oft ins Überdimensionale verzerrten Gewalttätigkeiten, durch die Fixierung der Aufmerksamkeit auf kollektive Sündenböcke, durch die Regelhaftigkeit des Verbrechens. In beiden Ausprägungen des Kriminalromans wird der vorübergehende Gleichgewichtsverlust der Leser wieder aufgehoben. Der bewunderte Held des Detektivromans ist der Garant dafür, dass die durch das Geheimnis des Verbrechens aufgeworfene Irritation lustvoll genossen werden kann - in der Gewissheit, dass alles, was bedrohlich erscheint, aufgeklärt wird. Auch der vor allem wegen seiner Risikobereitschaft bewunderte Held des Thrillers stellt - mit anderen, sehr handgreiflichen Mitteln - die gestörte Ordnung wieder her und gewährt dem um den erfolgreichen Ausgang der Handlung wissenden Leser spannende und entspannende »Angstlust«.Prof. Dr. Peter NusserAmerikanische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hubert Zapf. Stuttgart u. a. 1997.Englische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber. Stuttgart u. a. 21993.Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart u. a. 21992.Schirmer, Walter F.: Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur. 2 Bände. Tübingen 61983.Schulz-Buschhaus, Ulrich: Formen und Ideologien des Kriminalromans. Ein gattungsgeschichtlicher Essay. Frankfurt am Main 1975.
Universal-Lexikon. 2012.